Eule-Orgel

Orgeln

Eule-Orgel

 

Grußwort zur Orgelweihe aus dem Presbyterium

Der 9. Juli 2017 ist ein Tag voller Freude und Dankbarkeit für die Neustädter Marien-Kirchengemeinde und für viele Menschen darüber hinaus. Endlich haben wir das Ziel erreicht. Wir dürfen uns am Klang und am Aussehen unserer neuen Orgel erfreuen.

Es war ein langer Weg. Fast zwanzig Jahre waren wir mit unserem Orgelprojekt auf dem Weg, nachdem ein Gutachten bescheinigt hatte, dass die alte Kleuker-Orgel erhebliche Materialschäden aufwies. Eine sehr kostenaufwendige Reparatur erachtete das Presbyterium für nicht sinnvoll. So wurde im Folgenden ein Orgelneubau beschlossen, der ausschließlich aus Spenden zu finanzieren war.

Viele Menschen haben in den folgenden Jahren für die neue Orgel gespendet. Dafür sagen wir von Herzen Danke! Demnächst wird in der Kirche ein Buch mit den Namen der Spender ausgelegt.

Unsere Stadtkantorin KMD Ruth M. Seiler hat viele Benefizkonzerte zu Gunsten der neuen Orgel veranstaltet. Unserem im vergangenen Jahr in den Ruhestand verabschiedeten Pastor Alfred Menzel war es gelungen, Spenderinnen und Spender mit kleiner wie großer Unterstützung für das Orgelprojekt zu begeistern und zu gewinnen. Ohne die großzügigen Zuwendungen der Geschwister Dr. Wolfgang und Mechthild Böllhoff, des verstorbenen Prof. Dr. Westerfelhaus und der Rudolf-August-Oetker-Stiftung hätten wir das Orgelprojekt zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht umsetzen können. Viele Gemeindeglieder und Bielefelder Bürger und Bürgerinnen haben sich mit Aktionen für den Orgelneubau engagiert.

Die kleinen und die großen Schritte auf diesem langen Weg sind nun zum Ziel gekommen. Im Zusammenhang mit dem Aufbau der neuen Eule-Orgel, die aus akustischen Gründen ihren Platz im Westen unserer Kirche gefunden hat, konnte eine Innenrenovierung der Marienkirche durchgeführt werden, die uns den Raum nun noch heller erleben lässt.

Möge der neuen Eule-Orgel in der Neustädter Marienkirche, im Blick auf ihre Vorgängerinnen, ein langes Leben beschieden sein und sie zum Lobe und zur Ehre Gottes sowie zur Erbauung der Menschen erklingen.

SOLI DEO GLORIA – ALLEIN GOTT DIE EHRE

Bielefeld, am vierten Sonntag nach Trinitatis 2017

Rolf Kriete
Vorsitzender des Presbyteriums

Christel E.A. Weber
Pfarrerin

 

Jiří Kocourek, Künstlerischer Leiter, Hermann Eule Orgelbau GmbH Bautzen

Fünfeinhalb Jahre sind vergangen seit unserem ersten Besuch in der schönen Neustädter Marienkirche in Bielefeld. Eine angenehme Überraschung war der weite, helle Kirchenraum mit seiner überaus tragfähigen Akustik, ungewohnt hingegen das Fehlen einer Orgelempore (die es bis zur Neugestaltung des Kirchenraums nach dem II. Weltkrieg tatsächlich gegeben hat).

Die Idee der Ausschreibung für die neue Orgel war der Klangstil von Friedrich Ladegast (1818 - 1905). Ladegast war einer der bedeutendsten deutschen Orgelbauer in der Zeit der Hochromantik. Aus seiner Werkstatt im mitteldeutschen Weißenfels gingen neben zahlreichen kleinen und mittleren Orgeln auch einige der größten Orgeln der damaligen Zeit hervor, die teils erhalten, teils rekonstruiert sind (Merseburg, Leipzig, Schwerin). Ladegast hat seinen Orgeln die Dynamik und Farbenvielfalt des romantischen Sinfonieorchesters gegeben und somit eine moderne, konzertante Orgel geschaffen, die von bedeutenden Komponisten seiner Zeit – vor allem Franz Liszt – sehr geschätzt wurde. Eine exzellente Individualität jeder einzelnen Klangfarbe und eine weit angelegte Dynamik vom zart verhauchenden pianissimo Pianissimo bis zum monumental brausenden Tutti der gesamten Orgel kennzeichnen Ladegasts Instrumente.

Unsere Werkstatt konnte mehrfach Ladegast-Orgeln restaurieren, darunter zwei seiner größten Werke in Merseburg und Leipzig sowie die dreimanualigen Werke in Wittenberg, Rudolstadt und Mittweida. Diese Erfahrungen und die Kenntnis fast aller noch erhaltenen drei- und viermanualigen Ladegast-Orgeln waren für uns sehr wichtig, um Ladegasts Stilistik und seine künstlerisch-klangliche Vorstellung einer romantischen Orgel zu erfassen. Bereits zweimal konnten wir diese faszinierende Ladegastsche Klangwelt in neuen Orgeln umsetzen: 2013 in Oslo-Sofienberg in Norwegen und 2015 in Naestved in Dänemark.

Doch der Wunsch in Bielefeld war nicht eine Kopie nach Ladegast oder gar der Nachbau einer konkreten Orgel – letzteres wäre problematisch, weil Ladegast jede Orgel individuell als Einzelstück für den sie umgebenden Kirchenraum mit seiner Akustik und seinen Platzverhältnissen geschaffen und ihm angepasst hat. Vielmehr sollte Ladegasts Stil den klanglichen Kern der neuen Orgel bilden. Dieser sollte zum Einen einen in Richtung der späten deutschen Orgelromantik um 1900 weitergeführt werden, zum anderen und gleichzeitig auch die Tradition barocker Orgelklangfarben aufgreifen.

Deshalb mussten wir uns zunächst in Ladegast hineinfühlen, wie er seine Orgeln plante, gestaltete und welche klangliche Vision ihm vorschwebte – was hätte er in Bielefeld gebaut? Ein bekanntes „Muster“ war die gut erhaltene Orgel in Polditz mit 33 Registern von 1868. Die Bielefelder Orgel sollte allerdings 5 Register mehr bekommen – fast so viel wie die des Meisters von 1864 mit 41 Registern in Weißenfels. Wir entwickelten also eine quasi ideale, universale Ladegast-Orgel - – keine Kopie, sondern eine Hommage an Friedrich Ladegast.

Besonders das Hauptwerk, spielbar auf dem I. Manual, übernimmt mit seinen 12 Registern das Ladegastsche Klangkonzept vollständig. Der kraftvolle, festlich- silbrige, führende Klang des 5-registrigen Principalchores wird von der leuchtenden großen Flauto, der samtig-hellen Rohrflöte, dem dunklen Bordun und einer markanten Gambe flankiert. Das Cornett beginnt bereits ab C und färbt den Klang markig und eigenständig, Trompete 8‘ ’ gibt Kraft und Brillanz.

Auch das II. Manual enthält das dazu passende Ladegastsche Registerensemble:

Ein schlankerer, hellerer Geigenprincipalchor mit einer Progressio als Klangkrone, daneben zwei Flöten, das fein singende Salicional, das färbende Nasard und die etwas herbere Basierung auf der Quintatön. Aber die Disposition führt dieses Konzept weiter: Clarinette 8‘ ’ erhielt aufschlagende Zungen, ein Cor anglais 16‘ ’wurde hinzugefügt, das Pfeifenwerk erhielt einen Schwellkasten. Dadurch werden die Ausdrucksmöglichkeiten vor allem für die symphonische Orgelmusik der Zeit um und nach 1900 erweitert, besonders für französische Orgelmusik der Romantik. Weitere Ergänzungen waren eine Terz 1 3/5‘ ’ und eine Quinte 1 1/3‘, ’, letztere als Vorabzug aus der Ladegastschen Progressio gewonnen, sowie ein Tremulant: Diese Register ermöglichen farbige Soloregistrierungen für barocke Musik. Passend zur barocken Verspieltheit wurde nachträglich noch ein Cymbelstern mit 6 Glocken bestellt.

Das III. Manual – bei Ladegast das sanfteste Werk, umgeben von einem Schwellkasten – erhielt eine größere Besetzung, wie sie Ladegast 1864 in Weißenfels angelegt hatte: die zarte Viola d’amour und die anmutige Flauto traverso zusammen mit dem dunklen Lieblich Gedackt ermöglichen mystische, verträumte Klänge, die die Unda maris als Schwebestimme sphärisch durch den Raum schweben lässt. Aufhellung bringen Fugara und Zartflöte sowie die fein silbrig glitzernde Harmonia aetherea, aus der als Vorstufe ein 2‘ ’ abgezogen werden kann.

Jedoch sollte das III. Manual nicht nur ein zartes Echowerk wie bei Ladegast üblich sein, sondern sich an die Klangstärke des I. und II. Manuals besser anschließen.

Daher wurde das Teilwerk um eine Oboe 8‘ ’ für spätromantische Klangfarben ergänzt, und die füllige, intensive Doppelflöte 8‘ ’ wanderte aus dem II. Manual hierher, im Tausch gegen das schlankere Gedackt.

Auch das Pedal erhielt als Kern die grundtönige Besetzung mit vier 16‘-’-Registern, darunter der die profunden Posaune, die wir in der Bauform Ladegasts bauen. Erweitert wurde die Besetzung um einen Trompetenbass 8‘, ’, den Ladegast erst bei größeren Orgeln baute. Die technische Möglichkeit von Extensionen im Pedal erlaubte es, aus diesen Pfeifenreihen 6 weitere Register (mit je 12 zusätzlichen Pfeifen) zu gewinnen und dem Pedal so eine ladegasttypische reiche Besetzung zu geben, die alles für Spätromantik Wünschenswerte enthält und zusätzlich mit Clairon 4‘ ’ eine aufhellende barocke Solostimme.

Der Gesamtklang der Orgel soll farbig, vielseitig, raumfüllend und ganz besonders dynamisch werden: Vom fast verhauchenden pianissimo Pianissimo bis zum brausenden Tutti soll die Orgel alle erdenklichen Nuancierungen ermöglichen. Quasi symphonisch, wie ein großes Orchester, mit allem, was auch für Musik der Zeit Regers, Widors, Elgars und Karg-Elerts wichtig ist. Aber er soll auch klassische barocke Musik mit ihren hellen, farbenfrohen Klängen spielbar machen, und auch moderne Musik ermöglichen. Zwar blieb es nominell bei 38 Registern, aber durch 6 Extensionen und 2 Vorabzüge können effektiv 46 Klangfarben registriert werden. Recht schnell bestand Einvernehmen, dass der Standort der neuen Orgel vor dem Westeingang sein sollte, wo früher die Orgeln auf der einstigen Empore standen.

Doch die Eingangssituation sollte nutzbar bleiben und das Westfenster möglichst sichtbar, Eingriffe in die denkmalgeschützten Säulen und Wände sollten möglichst vermieden werden. Andererseits benötigt eine große Orgel im romantischen Stil mit ihren vielen weiten und langen Pfeifen, Schwellkästen, Windanlage und Technik eben auch ihren Platz, damit nicht die Klangentfaltung im Inneren nicht behindert und die Orgel für Wartungen unzugänglich wird. Daher entschieden wir uns für ein Gehäuse mit einem schmaler eingezogenen Unterbau, sodass seitlich Durchgänge für die Kirchenbesucher bleiben. Der Organist sitzt auf einem 1,3 m tiefen Podium vor der Orgel 70 cm über dem Erdboden und kann so über die Köpfe der Besucher hinweg das Geschehen in der Kirche sehen und mit anderen Musikern Kontakt halten – und sitzt ein wenig separiert von allzu Neugierigen, die ihm zu dicht auf die Finger schauen wollen.

Für das sichtbare Obergehäuse, den Prospekt, wählten wir eine strenge Gliederung in großen Formen - – Kleingliedrigkeit hätte optisch den Eindruck einer viel größeren Orgel erweckt. In nur 6 Feldern ohne Etagenunterteilung stehen 30 teils über 5 Meter lange Pfeifen und schaffen einen ruhigen, klaren Eindruck, der die dominierende Vertikale der gotischen Architektur aufnimmt. Die 4 schmalen Mittelfelder greifen die Fensterpassgliederung des Westfensters hinter der Orgel auf – sie sind etwas niedriger, sodass man das Maßwerk des Westfensters sehen kann. Erst im rückwärtigen Bereich kragt das Obergehäuse nochmals seitwärts aus und schafft hier den Platz für die beiden großen Schwellwerke. An der Rückseite stehen die 14 tiefsten Pfeifen der Orgel auf einer kleinen Vorkragung über dem Eingangsbereich.

Die Gehäuseflächen und der Spielschrank sind in Eiche gestaltet, die Güte, Stabilität und Dauerhaftigkeit der neuen Orgel symbolisiert.

Der Organist spielt am eingebauten Spielschrank. Alle Tasten (3 Manualklaviaturen mit 61 und 1 Pedalklaviatur mit 30 Tasten) und die 46 klingenden Registerzüge sind in traditioneller Bauweise mechanisch mit den Ventilen und Schleifen verbunden. Die für Ladegast typischen nur 3 Koppeln wurden um 3 weitere ergänzt - – 6 Koppeln ermöglichen jetzt, jede Klaviatur mit den anderen zu verbinden, eine 7. Koppel verbindet die höhere Oktave des II. Manuals. 2 Tremulanten ermöglichen den Orgelklängen ein Vibrato. Additiv auf die Mechanik wirkt eine elektrische Registrieranlage, die es ermöglicht, beliebige Registerkombinationen, die der Organist im Vorhinein einstellt, abzuspeichern und während des Spiels durch Knopfdruck aufzurufen. Das ermöglicht auch eine Walze, durch deren Drehen mit dem Fuß nacheinander alle Register und Koppeln eingeschaltet werden – in einer dynamisch fein abgestimmten Reihenfolge vom pianissimo Pianissimo bis zum Tutti.

Zwei Balanciertritte bedienen die Jalousien der beiden Schwellkästen, in denen alle Pfeifen des II. und III. Manuals stehen (mithin mehr als die Hälfte aller Pfeifen) und ermöglichen eine zusätzliche Dynamik vom piano Piano bis zum forteForte, ohne dass die Klangfarbe sich ändert.

Der innere Aufbau der Orgel nutzt den begrenzten Platz optimal aus. Wichtig war uns, dass jedes Teilwerk gut in den Raum klingen kann, eine kurze und direkte Trassenführung für die Spielmechaniken möglich wird und eine gute Zugänglichkeit für Stimmung und Wartung. Im Unterbau des Gehäuses (4,0 x 4,4 m) befindet sich die Spielanlage: mechanische Zugdrähte, Winkel, Wellen, Stangen mit den entsprechenden Regulierstellen, aber auch die Elektrik und Elektronik, außerdem die großzügige, atmende Balganlage mit einem leistungsstarken Ventilator, einem Vorbalg und vier doppelfaltigen Magazinbälgen (für jede Klaviatur einer). Durch Türen ist das Innere zugänglich, über Laufböden gelangt man an alle wichtigen Stellen, über Leitern schließlich in das Obergehäuse. Im Obergehäuse (6,5 m breit) steht vorn über die gesamte Breite das Hauptwerk (I. Manual). Nur die seitlichen großen Prospektpfeifen gehören zum Pedal. Dahinter folgen nebeneinander die beiden Schwellwerke: links das II. Manual, rechts das III.. Hinter den Schwellwerken stehen die Pedalladen über die gesamte Gehäusebreite. Nach hinten auskragend folgt der Untersatz 32‘. ’. Auch im Obergehäuse ermöglichen Laufböden (Stimmgänge) den Zugang zu den Pfeifen. Mit Stimmdrückern kann der Spieler sich selbst die Töne zum Nachstimmen anhalten. Bis zur Spitze der größten Pfeifen sind es 8,20 m.

Bevor jedoch die Orgel gebaut werden konnte, durchlief das Projekt eine lange und sehr intensive Diskussions- und Planungsphase. Zahlreiche Details wurden diskutiert, manche zur Klanggestaltung, vor allem aber zu Details der Gehäusegestaltung und zum Bauablauf. Im Sommer 2016 begann der Bau mit der Konstruktion und anschließend der Werkstattfertigung aller Teile bis zur Saalmontage der technischen Anlage in Bautzen. Hier konnten die Interessierten aus Bielefeld am 28. Januar 2017 erstmals ihre Orgel sehen. Am 9. Mai 2017 wurden alle Orgelteile nach Bielefeld gebracht. An den technischen Aufbau schloss sich seit Juni die Intonation an – die endgültige Klanggebung aller Pfeifen abgestimmt auf den Kirchenraum und seine Akustik. Jede einzelne der 2.843 klingenden Pfeifen haben Chefintonateur Gregor Hieke und seine Intonateure Johannes Adler, André Gude, Michael Friedel und Fabian Zocher dafür bearbeitet. Zum Schluss erfolgte die Generalstimmung der gesamten Orgel.

Die Vollendung der großen Orgel in der Neustädter Marienkirche erfüllt uns nicht allein mit Freude und Stolz, sondern vor allem mit großer Dankbarkeit. Wir konnten in Bielefeld spüren, was 1819 ein Gutachter im thüringischen Allendorf schrieb: „dass jetzt ein gewaltiger Orgelgeist in allen Gemeinden herrscht.“ Wir danken besonders – neben vielen Anderen - – Herrn Rolf Kriete, Presbyteriumsvorsitzender, und den Pfarrer(inne)n Cristel Weber und Alfred Menzel für die stets zuverlässige, vertrauensvolle Zusammenarbeit. Frau KMD Ruth M. Seiler als Organistin und Herrn KMD Martin Rieker als Sachverständigem danken wir für die vielen anregenden und fruchtbringenden Diskussionen, mit denen Schritt für Schritt die Orgel optimiert wurde. Wir danken den vielen Mitwirkenden, stellvertretend Frau Ann-Kathrin Kahmann von Terbrack Architekten in Bielefeld, und allen weiteren Persönlichkeiten und Helfern. Besonders danken wir aber der Ev.-Luth. Kirchgemeinde der Neustädter Marien-Kkirchengemeinde, dass sie uns diesen wunderbaren Orgelbau übertragen und ermöglicht hat. Für unsere Werkstatt war dies eine große Freude und Anerkennung, an einem solch schönen Standort ein so interessantes Instrument bauen zu dürfen!

Möge nun die neue Orgel lange zur Ehre Gottes und zur Freude der Bielefelder Bürger erklingen.

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